Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
als Zeitzeuge grauenhaften und unmenschlichen Geschehens durch das Nazi-Regime in meiner Heimat, welches ich als Junge im Alter von 8 bis 13 Jahren erlebte, sehe ich mich verpflichtet an einige
dieser Geschehnisse zu erinnern, vor allem für die Jungen Menschen von heute, denen das zum Glück erspart blieb. Der Nachwelt dieser Zeit möchte ich von dramatischen Erlebnissen berichten, die
oft noch bis in die Gegenwart wirken und zu traumatischen Zuständen bei mir führen. Im Alter von 83 Jahren hat man, so denke ich, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, vor Gefahren zu
warnen, zumal die Gegenwart alles andere als friedlich ist, wenn wir uns aufmerksam umschauen.
Mein Name ist Albrecht Dürer, ich bin 1932 in Liebenstein, dem damaligen Kreis I Arnstadt, geboren. Ich entstamme einem einfachen Elternhaus, einer christlich geprägten Arbeiterfamilie, die mich mit allen bekannten Regeln von Moral und Ethik zu einem guten Menschen zu erziehen versuchte. Doch diese Erziehung stand spätestens ab meinem 8. Lebensjahr im Widerspruch zu meiner Umwelt, zu dem, was ich täglich erlebte, - es begann der 2. Weltkrieg, welchen ich real erleben sollte. Ich spürte die Angst der Frauen und Mütter um die als Soldaten rekrutierten Männer, Söhne oder Schwager. Mit Argusaugen verfolgten die Frauen und Mütter täglich die Postbotin oder den Bürgermeister, wenn diese durch unser Dorf liefen, denn sie überbrachten die Nachrichten der Heeresleitung der für Führer, Volk und Vaterland Gefallenen. Mir sind noch sehr wohl die Schreie von Frauen unserer Nachbarschaft in Erinnerung, wenn sie die Todesnachricht erreichte.
Eine Welt brach für mich zusammen als ich am 11. April 1945, eine halbe Stunde vor Kriegsende in unserem Dorf, meine liebe Mutter noch opfern musste, die mich doch bis zu ihrem Tod zu einem friedliebenden Christen erzogen hatte. Bevor die amerikanischen Truppen von Crawinkel kommend, unser Dorf Liebenstein eroberten, hatten sie es erst noch mit Artilleriefeuer belegt. Die erste Granate traf meine Mutter tödlich. Seither war nichts mehr wie es einmal war. Familienleben gab es nicht mehr. An das "Weihnachtsfest" 1945 kann ich mich noch sehr gut erinnern - ich will auf seine Schilderung verzichten - es war sehr schlimm!
Vor allem dieses Erlebnis bewog mich dazu, mein ganzes Leben für den Frieden unter den Menschen einzusetzen. Doch auch andere Erlebnisse führten mich zu diesem Entschluss. So konnte ich mit 13 Jahren die Todesmärsche des Sonderlagers S III Jonastal durch unser Dorf sehen und das Schlürfen der halbtoten Männer in blau-weiß gestreifter Häftlingskleidung und Holzschuhen erleben. Völlig abgemagert riefen sie nach Brot und Wasser und wurden dafür mit Gewehrstößen geahndet. Starke Bewachung durch SS-Angehörige und scharfe Hunde hielten Menschen zusammen, die sich nicht wehren konnten. Einige, die in der Dämmerung in Gassen und Höfe geflüchtet waren, wurden durch örtliche SA-Männer und Hitlerjungen, welche noch in letzter Stunde zum Volkssturm eingezogen wurden, wieder eingefangen und am folgenden Tag standrechtlich erschossen. So wurde ich neben anderen meiner Generation Zeuge, wie Faschisten mit Menschen umgingen, die völlig wehrlos waren und auf das Kriegsende, auf ihre Befreiung hofften. Wir sahen wie 12 der eingefangenen Häftlinge, die immer wieder um Gnade bettelten, mit Hacke und Schaufel ihr Grab schaufeln mussten und dann unter dem Befehl eines SS-Angehörigen von ca. 15-17jährigen Hitlerjungen, die man zum Volkstum, dem letzten Aufgebot, eingezogen hatte, hinterhältig erschossen wurden. Weitere drei Häftlinge sah ich auf dem Weg zum Bahnhof Gräfenroda am Straßenrand liegen, mit dem Gesicht nach unten und einer Decke zugedeckt. Beim Anheben der Decke sah ich, dass man die Männer durch Genickschuss getötet hatte. Sie wurden am Fahrbahndamm in der Nähe des Förstersteiches verscharrt, damit sie keiner finden sollte. Nach Kriegsende wurden alle 15 ermordeten Häftlinge exhumiert und auf dem Friedhof zu Liebenstein in einem Massengrab halbwegs menschlich beerdigt.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Dies sind einige meiner Kindheitserlebnisse, die mich bewogen, im 70. Jahr nach Kriegsende darüber zu berichten und auch gleichzeitig zu mahnen. Allein 18 Millionen deutsche Männer im besten Alter sind gefallen, vor allem wurde die Jugend abgeschlachtet. Vom Jahrgang 1921 blieben nur wenige am Leben. Nicht beziffert sind die Millionen Zivilopfer, die an der Heimatfront durch Bomben und andere Vernichtungsmittel starben. Aber auch die vielen Millionen Opfer anderer Völker und nicht zuletzt den Millionen Toten der faschistischen Konzentrationslager zu gedenken ist für uns eine große Verpflichtung.
Daher rufe ich Sie inständig auf, am 04. April 2015 am Gedenkmarsch für die Opfer des Sonderlagers S III Jonastal - Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald teilzunehmen. Denken Sie daran, es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden.
Albrecht Dürer
Bürgermeister der Gemeinde Liebenstein
und Zeitzeuge